Donnerstag, 13. November 2025

Eine Freundschaft

 Leo und Felix

 

Die Sonne malte lange, goldene Schatten über die Veranda, auf der Felix saß. Neben ihm lag Leo, ein Bassett Hound mit Ohren, die fast den Boden berührten, und Augen, in denen eine unendliche Melancholie zu wohnen schien.

Ihre Freundschaft war nicht mit einem lauten Paukenschlag begonnen, sondern mit einem leisen Seufzen. Felix hatte Leo in einem Tierheim gefunden, ein stilles, etwas heruntergekommenes Tier, das mehr aus Pflicht als aus Freude wedelte. Felix selbst war in einer ähnlichen Verfassung. Ein Architekt, dessen Karriere durch einen Fehler in einem großen Projekt jäh gestoppt worden war, lebte er zurückgezogen in einem alten, gemieteten Haus am Rande der Stadt. Er hatte sich selbst verziehen, aber der Welt verziehen fiel ihm schwer.


Leo lehrte ihn die Kunst der Gegenwart. Ein Spaziergang war für Leo kein Mittel zum Zweck, sondern eine philosophische Übung: das genaue Studium jedes Grashalms, das Inhalieren jeder Luftströmung, das unbedingte Vertrauen in den nächsten Schritt. Felix, der in Gedanken stets die fehlerhaften Baupläne der Vergangenheit korrigierte oder die unsicheren Fundamente der Zukunft berechnete, musste Leo erst lernen, dass das wichtigste Fundament der Boden unter seinen Füßen war.

Eines Abends, als der Herbstwind unerbittlich an den Fenstern rüttelte, saß Felix vor einem Berg von Ablehnungen auf Bewerbungen. Die Verzweiflung packte ihn an der Kehle. Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Leo, der regungslos in seinem Korb gelegen hatte, stand auf. Mit der langsamen, gewichtigen Bewegung eines alten Gelehrten näherte er sich Felix, stützte seinen schweren Kopf auf dessen Knie und stieß einen tiefen, zufriedenen Seufzer aus, der nicht klang wie Mitleid, sondern wie ein stilles, unerschütterliches Statement: „Du bist hier. Ich bin hier. Alles, was wesentlich ist, ist intakt.“


In Leos Anwesenheit fand Felix eine Wahrheit, die er im Lärm seiner eigenen Schuldgefühle
überhört hatte: Die wahre Stärke liegt nicht im fehlerfreien Bauen, sondern im Halten. Leo hielt an der Welt fest, indem er einfach da war.

Im Laufe der Jahre wurden die Spaziergänge länger und Felix’ Lachen ehrlicher. Er begann, kleine Skizzen des Hauses und des Gartens zu zeichnen, dann die Gesichter der Nachbarn, die er durch Leo kennengelernt hatte. Die Perfektion des rechten Winkels wich der warmen Unregelmäßigkeit des Lebens. Felix fand einen neuen Beruf als Zeichenlehrer an einer Abendschule – ein Beruf, in dem er nicht Perfektion, sondern das Sehen lehrte.

Doch die Zeit ist unerbittlich, auch gegenüber den reinigendsten Freundschaften. Als Leo alt wurde, verlor er die Kontrolle über seine Beine und seine unendliche Neugier wich einer vorsichtigen Müdigkeit.

Felix trug ihn die Verandastufen hinauf und hinunter. Er verbrachte Nächte neben seinem Korb, wenn das Keuchen seines Freundes zu laut wurde. In diesen Momenten war die Rollenverteilung umgekehrt: Felix war nun das Fundament, unerschütterlich, bedingungslos.

Der Tag des Abschieds kam an einem stillen, kühlen Morgen. Felix lag neben Leo auf dem Boden, sein Gesicht dicht am warmen Fell. Er flüsterte die Geschichten all ihrer Spaziergänge, jedes erbeuteten Stockes, jeder Begegnung mit Eichhörnchen. Leo hob kaum noch den Kopf, aber seine melancholischen Augen fixierten Felix mit einer Intensität, die die Jahre wegzuschmelzen schien. Es war keine Angst in seinem Blick, nur Annahme und die tiefe, stille Dankbarkeit, Teil eines vollkommenen Moments gewesen zu sein.

Als Leo seinen letzten Atemzug tat, spürte Felix keine Leere, sondern eine überwältigende Fülle. Es war die stille Erkenntnis, dass Leo nicht einfach ein Hund war. Er war der Anker gewesen, der Felix gezwungen hatte, im Hier und Jetzt zu bleiben, bis er dort einen neuen Grund zum Leben gefunden hatte.

Felix saß noch lange neben ihm, spürte die Stille im Haus. Die Sonne malte wieder goldene Schatten über die leere Stelle auf der Veranda. Er stand auf, ging zum Tisch und nahm einen Zeichenstift. Er zeichnete Leo nicht, wie er aussah, sondern wie er sich anfühlte: Ein tiefes, warmes Gewicht, das in der Lage war, die dunkelsten Mauern der Vergangenheit zum Einsturz zu bringen, nur durch die einfache, unerschütterliche Kraft der Gegenwart.

Felix hatte die perfekte Struktur nicht in Gebäuden gefunden, sondern in der einfachen, tiefen Kurve der Freundschaft, die Leo ihm geschenkt hatte.

 
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